Du bist das Gegenteil von allem by Rodrigues Carmen

Du bist das Gegenteil von allem by Rodrigues Carmen

Autor:Rodrigues, Carmen [Rodrigues, Carmen]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: cbt Verlag
veröffentlicht: 2015-04-18T16:00:00+00:00


16

Du bist bloß ein Jahr älter als ich, aber du hast immer schon viel besser gewusst, wie die Welt funktioniert. Du wusstest, dass man alles, was im Laufe der Zeit an einem hängen bleibt – der Schmutz an meinem Oberschenkel genauso wie die Löwenzahnblüte an meinem Handgelenk – abgestreift werden kann.

Sarah

Danach. Februar

Es ist wieder mal Sonntag und Mom und meine Schwestern sind in der Kirche. Ich stelle mir vor, wie sie dicht nebeneinander in der engen Bank sitzen, die Gesangsbücher im Schoß, und singen, sich an den Händen halten oder das Vaterunser beten.

Ich dagegen warte allein zu Hause mit einer Schüssel aufgeweichter Cornflakes im Schoß darauf, dass sie zurückkommen. Und als sie dann wieder da sind, beobachte ich sie und versuche, die Bedeutung ihrer Rituale zu entschlüsseln. Ich habe viel über Sonntage gelernt. Aber vor allem habe ich gelernt, dass Mom fast alles sieht und weiß, auch wenn sie es sich nicht anmerken lässt.

Sie räuspert sich, als Meg sich beschwert, dass Dad nicht zu Hause ist, obwohl er es versprochen hat. Seufzt, als Jess ihren Teller wegschiebt, nachdem sie so getan hat, als hätte sie etwas gegessen. Lächelt geduldig, während Mattie ihr aus Dora, die Entdeckerin vorliest.

Als Meg, die immer noch ihr Sonntagskleid anhat, plötzlich zum Wohnzimmerfenster läuft, macht Mom sie nachsichtig darauf aufmerksam, dass ihr die Spange mal wieder fast aus den Haaren herausrutscht, weil sie so unglaublich glatt sind. Meg beachtet sie nicht und zieht den karierten Vorhang so schnell zur Seite, dass ein silberner Bilderrahmen zu Boden fällt.

»Er hat mich gesehen!«, kreischt sie. Ihre Wangen färben sich rosa, aber sie presst sich mutig ans Fensterbrett. »Oh Gott.« Sie atmet langsam aus und starrt auf den namenlosen Jungen, der ihr neuester Schwarm ist. »Oh Gott.«

Fahrradreifen quietschen. Meg bricht kichernd zusammen. Mattie springt von Moms Schoß, läuft zum Fenster und späht hinaus. Jess schiebt ihren Teller noch weiter weg und stellt sich auch zu den anderen, um schweigend die Welt da draußen zu betrachten. Durch die Scheibe kann ich sehen, dass es ein herrlicher Tag ist. Später wird es vielleicht noch kalt und regnerisch, aber im Moment strahlt die Sonne vom Himmel, und in dem Licht, das sich um die Rinde der Baumstämme legt, liegt ein Frühlingsversprechen. Zum ersten Mal seit Monaten möchte ich nach draußen gehen und den Sonnenschein auf meinem Gesicht spüren.

Ich stehe auf, trete näher, aber nicht zu nah, und bücke mich, um den Rahmen aufzuheben. Die glückliche Familie auf dem Bild, das darin steckt, ist eine Hochglanzversion der Familie, die ich kenne. Als ich es auf das Tischchen zurückstelle, fängt Mom meinen Blick auf und nickt in Richtung meiner Schwestern.

»Ach, noch mal jung sein«, sagt sie mit wehmütigem Lächeln, als hätte ich wie sie das schmerzhafte Erwachsenwerden bereits hinter mir.

Jetzt herrscht absolute Stille im Raum. Meine Schwestern drücken sich an die Scheibe und ich sehe Mom an.

Die Sekunden vergehen und allmählich werden wieder Geräusche hörbar: Meg, die Jessie etwas ins Ohr flüstert, und Mattie, die kichert.

»Mom …?«, sage ich schließlich. Sie dreht mir leicht den



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